Wie steht es eigentlich um dein Selbstmitgefühl?
Oder mal anders gefragt:
Wie oft gehst du mit dir selbst nach einem Fehler extrem hart ins Gericht?
Manchmal lassen wir schon bei der kleinsten Abweichung von unseren Idealvorstellungen Selbstkritik aus vollen Eimern auf uns niederprasseln.
Tut uns das gut?
Nein.
Immerhin folgen auf diese Selbstkritik in der Regel unangenehme Gefühle wie Schuld, Scham oder Angst.
Würden wir eine gute Freundin so dermaßen niedermachen, wenn sie durch eine Prüfung gefallen ist oder gerade verlassen wurde?
Wieder nein.
Aber warum springen wir dann mit uns selbst so um?
Die amerikanische Psychologin Kristin Neff beschäftigt sich eingehend mit diesem Thema.
Ihre Definition von Selbstmitgefühl sehen wir uns in diesem Artikel genauer an. Hier werden übrigens auch ein paar Studien zum Selbstmitgefühl beschrieben, falls du noch weiterlesen möchtest.
Selbstmitgefühl – Was ist das?
Laut Neff setzt sich das Selbstmitgefühl aus drei Dingen zusammen:
1) Selbstfreundlichkeit
Das heißt, dass wir mit uns selbst freundlich umgehen und uns selbst Verständnis entgegenbringen.
Wenn man allerdings an einen inneren Dialog aus Selbstkritik bis hin zu Beleidigungen gewohnt ist, kann allein die Idee, sich selbst freundlich zu begegnen oder sich selbst zu trösten erstmal ziemlich komisch klingen.
Wie alle neuen Verhaltensweisen braucht auch das Selbstmitgefühl eine Weile, bis sie zur Gewohnheit geworden ist.
Verwandter Artikel:
Psychische Gesundheit fördern mit Mini-Gewohnheiten
Neue Gewohnheiten etablieren – 5 Dinge, die dir dabei helfen
2) Gefühl des gemeinsamen Menschseins
Oder auch das „Gefühl der gemeinsamen menschlichen Erfahrung“.
Zugegeben, die deutsche Übersetzung klingt etwas unhandlich, bedeutet allerdings lediglich, dass wir mit unserem Leid nicht allein sind.
Du kennst vielleicht auch diese Momente, in denen du dich mit deinem Schmerz allein fühlst und glaubst, niemand anderem würde es so gehen.
Dir bewusst zu machen, dass auch andere Menschen mit ähnlichen Dingen hadern, kann sich entlastend anfühlen.
Niemand ist perfekt. Jeder macht mal Fehler, fühlt sich hin und wieder unzulänglich oder glaubt in manchen Momenten, nichts wert zu sein.
3) Achtsamkeit
Achtsamkeit hilft uns dabei, Emotionen und Gedanken bewusst wahrzunehmen. Gleichzeitig hilft sie uns, uns nicht von ihnen mitreißen zu lassen und komplett darin zu verheddern.
Achtsamkeit bedeutet, im jetzigen Moment zu sein und eben nicht über Vergangenes zu grübeln oder in Zukunftsplänen oder -sorgen zu versinken.
Wenn du mehr zum Thema Achtsamkeit lesen möchtest, schau gern mal in diese Artikel rein:
Was ist Achtsamkeit? Ein kurzer Überblick
Mehr Achtsamkeit im Alltag – 5 Tipps
Darum gehören Achtsamkeit und Selbstfürsorge zusammen
Selbstfürsorge im Alltag: Es muss nicht kompliziert sein
Wenn du übrigens Lust hast, dir einen Vortrag von Neff über den Zusammenhang von Selbstmitgefühl und Selbstwertgefühl anzusehen, kannst du das hier tun.
Warum haben wir meist nur wenig Mitgefühl mit uns selbst?
Selbstkritik und Minderwertigkeitsgefühle gehen meist auf Kindheitserfahrungen zurück. Als Kinder sind wir auf unsere Eltern und andere enge Bezugspersonen angewiesen.
Schließlich können wir uns als Babys oder Kinder noch nicht selbst versorgen. Wir sind also vom Wohlwollen dieser Menschen abhängig und wollen es verständlicherweise nicht verlieren.
Erfährt ein Kind z.B. nur dann Wertschätzung, wenn es etwas leistet und wird kritisiert oder beschimpft, wenn es etwas falsch macht, dann speichert das kindliche Hirn diese Info ab:
Wenn ich etwas gut mache, dann werde ich geliebt.
Der Selbstwert eines Kindes wird daher von der elterlichen Bestätigung geprägt.
Doch nicht nur im Elternhaus können solche Glaubenssätze aufgeschnappt werden, sondern auch im weiteren sozialen Umfeld:
Auch im weiteren Verwandtschaftskreis, im Kindergarten, in der Grundschule, etc.
Hinzu kommt der Einfluss der leistungsgesellschaftlichen Werte, die uns vermitteln:
Jede/r kann der oder die Beste sein – wenn man sich nur genug anstrengt.
Egal ob körperliche Attraktivität, Intelligenz oder materieller und finanzieller Erfolg:
Konkurrenzdenken wird in verschiedenen Bereichen befeuert und Perfektionsstreben gehört eigentlich schon zur Normalität.
Nach dem Motto:
Wer nicht perfekt ist, strengt sich einfach nicht genug an.
Dass unterschiedliche Startvoraussetzungen und Lebensumstände dabei ebenfalls eine erhebliche Rolle spielen, wird da leider schnell mal ausgeblendet.
Mit dem krampfhaften Versuch, das Unerreichbare erreichen zu wollen und dem gleichzeitigen Nichterreichen dieses perfekten Ideals wachsen gleichzeitig auch Frust, Stress, Minderwertigkeitsgefühle und Selbstkritik.
Aber nicht nur Selbstkritik hat wenig mit Selbstmitgefühl zu tun:
Viele missverstehen Selbstmitgefühl auch mit Selbstmitleid.
Es geht beim Selbstmitgefühl allerdings nicht darum, dich selbst zu bemitleiden, in Mitleid zu zerfließen und dir einzureden, wie schwer du allein es hast und wie unfair die Welt doch ist.
Stattdessen erkennst du deinen Schmerz an. Gestehst dir selbst Fehler und Makel zu. Du hörst dir selbst aufmerksam zu und spendest dir selbst Trost.
Das klingt vielleicht erstmal befremdlich, aber den Versuch ist es wert.

Kann Selbstkritik nicht auch motivierend sein?
Man könnte meinen, Selbstkritik könnte ja auch seine positiven Seiten haben.
Zum Beispiel indem sie uns überhaupt erst den Schubser in Richtung persönlicher Weiterentwicklung liefert.
Neff sieht diesen Gedankengang allerdings kritisch und geht davon aus, dass nicht Selbstkritik an sich der Antreiber ist, sondern emotionaler Schmerz.
Denn Selbstkritik geht, wie gesagt, mit unangenehmen Gefühlen einher.
Wenn wir uns selbst kritisieren, beleidigen und verurteilen, tut das eigentlich immer weh.
Als Reaktion darauf versuchen wir, unser Verhalten und unsere Leistung so zu verändern, dass wir uns keinen Anlass mehr zur Selbstkritik mehr geben.
Wir wollen uns selbst bzw. der Kritik also keine Angriffsfläche mehr bieten.
Da wir dabei allerdings auch „versagen“ könnten, haben wir Angst. Und Angst wirkt sich nicht wirklich gut auf Leistung und Produktivität aus, weil sie uns nervös macht.
Neff betont, dass wir daher gern mal zur Selbstsabotage tendieren, um uns (im Falle des Scheiterns) vor unserer kritischen inneren Stimme zu schützen.
Zum Beispiel durch Prokrastination, also den zeitlichen Aufschub einer Tätigkeit.
Das sorgt zwar dafür, dass wir kurzfristig von Selbstkritik verschont bleiben.
Dafür können langfristig nicht nur negative Gedanken oder Gefühle aufkommen, sondern auch noch ganz andere Probleme.
Selbstkritik kann zur Selbstsabotage führen
Etwa, weil wir durch´s Prokrastinieren Prüfungs- oder Abgabetermine nicht mehr einhalten können oder kurz vor Fristende noch schnell alles erledigen, worunter die Qualität der Arbeit leidet.
Ein weiterer Nachteil von Selbstkritik ist der, dass sie sich negativ auf unsere Selbstwirksamkeitserwartung auswirken kann.
Selbstwirksamkeit meint die Überzeugung, mit den eigenen Fähigkeiten Herausforderungen bewältigen oder Pläne verfolgen zu können.
Wenn unser innerer Kritiker uns aber permanent einredet, wir könnten eh nichts, seien nicht klug genug, zu schwach, zu undiszipliniert oder sonst was, dann sinkt – wenig überraschend – auch unsere Selbstwirksamkeitserwartung.
Wir versuchen manches dann gar nicht erst, weil wir denken „kann ich doch eh nicht“.
Das wiederum beraubt uns dann gegenteiliger Erfahrungen, die uns zeigen könnten „oh ok, ich kann das ja doch“. Was im Umkehrschluss die Selbstwirksamkeit wieder unterstützen könnte.
Nach besserer Leistung durch den vermeintlichen Motivator Selbstkritik klingt das also eher weniger.
Selbstmitgefühl vs. Selbstmitleid – Wo ist der Unterschied?
Falls du jetzt denken solltest „Selbstmitgefühl klingt eher danach, dass ich mich selbst bemitleiden soll“, da gibt´s einen Unterschied.
Stell dir vor, du hast eine Prüfung verhauen.
Dann geht es nicht darum, dass du in Selbstmitleid badest und dir Dinge sagst wie…
„Warum passiert so was immer mir?“
„Ich arme Person hab es doch eh schon schwer genug, warum musste das jetzt auch noch sein?“
„War klar, dass das passiert – ich verbocke ja immer alles, ich kann einfach nichts..“
Selbstmitleid kann lähmen, weil wir den Eindruck bekommen, ja doch nichts an der Situation ändern zu können.
Gefühle von Hilflosigkeit und Machtlosigkeit machen sich breit. Dass sich das nicht gut anfühlt, kann sich jeder vorstellen.
Auf die Frage, warum sowas nur dir passiert, verallgemeinerst du nicht nur auf sämtliche Situationen, sondern gibst auch deine Kontrolle ab und gleitest in eine Opferrolle ab.
Gleichzeitig bleiben wir dann schneller in negativen Gedanken und Emotionen hängen, statt uns dem Problem zu widmen.
Selbstmitgefühl bedeutet, die Situation erstmal so anzunehmen, wie sie ist. Zu bemerken und zu akzeptieren, dass das gerade ein schwieriger, trauriger, schmerzhafter Moment ist.
Und dir selbst Trost zu spenden – dich zu fragen, was du gerade brauchst.
Selbstmitgefühl ist auch nicht gleichbedeutend mit Passivität oder Resignation.
Du akzeptierst den Schmerz in dem Augenblick, sorgst für dich selbst und kannst anschließend (falls nötig) nach Lösungen suchen.
Wie kann ich mehr Selbstmitgefühl entwickeln?
Da Achtsamkeit ein Bereich des Selbstmitgefühls ist, kannst du eigentlich direkt mal dort ansetzen. Eine „Selbstmitgefühl-Meditation“ ist die sogenannte Metta-Meditation oder liebende Güte Meditation.
Dabei übst du dich darin, dir selbst, einer dir nahestehenden Person, Fremden und auch Menschen, mit denen du Schwierigkeiten hattest oder hast, mehr Mitgefühl entgegenzubringen.
Achtsamkeit lässt sich auf verschiedene Weisen in kleinen Dosen in deinen Alltag integrieren. Ein paar Tipps findest du in diesen Artikeln:
Mehr Achtsamkeit im Alltag – 5 Tipps
Meditation in den Alltag einbauen – 5 Tipps
Selbstmitgefühl-Übungen
Die folgenden vier Übungen kannst du ausprobieren, um dein Selbstmitgefühl ein bisschen zu unterstützen.

#1 Perfektionismus hinterfragen
Wenn dein innerer Kritiker sehr darauf bedacht ist, alles perfekt machen zu wollen, frage dich mal:
Was bedeutet überhaupt „perfekt“?
Warum sollte ich perfekt sein? Sind andere es?
Machen andere Menschen alles perfekt?
Reichen nicht vielleicht auch 80 % statt 110 %?
Wann ist etwas auch einfach mal gut genug?
Muss ich Fehler wirklich auf jeden Fall vermeiden?
Warum ist das gar nicht möglich?
Was ist das Gute an Fehlern?
#2 Nimm deine Gefühle und Gedanken achtsam wahr
Achtsamkeit gehört zum Selbstmitgefühl.
Die achtsame (bewusste und wertfreie) Wahrnehmung von Gefühlen und Gedanken hilft dir dabei, dich nicht so schnell in ihnen zu verlieren.
Durch Achtsamkeit schaffst du Distanz zwischen dir selbst und deinen Gedanken und Emotionen. Gleichzeitig erkennst du aber auch besser, was gerade überhaupt in dir los ist und deckst vielleicht verschiedene Muster auf.
Achtsamkeit kannst du mittels Meditation üben. Mit einem Bodyscan kannst du die Wahrnehmung deiner Körperempfindungen schulen.
#3 Akzeptanz üben
Wenn du Selbstkritik bei dir bemerkst, kannst du versuchen, sie erstmal einfach nur wahrzunehmen, statt sie direkt wegschieben zu wollen.
Keine Aufregung oder Wut darüber, dass der kritische Gedanke aufkam oder du nicht in der Lage warst, den inneren Kritiker zum Schweigen zu bringen.
Dass du erstmal akzeptierst, dass du zu Selbstkritik neigst, bedeutet nicht, dass du nicht daran arbeiten darfst. Die Akzeptanz bezieht sich auf den Moment, in dem du ihn bemerkst.
Später kannst du z. B. Beweise suchen, die seine Kommentare entkräften.
#4 Gegenbeweise sammeln
Selbstkritik beinhaltet häufig Generalisierungen.
„Das konntest du noch nie“
„Du machst immer alles falsch“
„Alle anderen können das besser als du“
Jedes Mal, wenn dir dein innerer Kritiker mit verallgemeinernden Begriffen wie „nie“, „immer“, „alle“, etc. kommt, solltest du hellhörig werden und die Aussage hinterfragen:
Stimmt das?
Habe ich XY wirklich noch NIE hinbekommen?
Mache ich wirklich IMMER ALLES falsch?
Können wirklich ALLE das besser?
Schreib dir gern einige Situationen oder Ereignisse auf, die die Aussagen des inneren Kritikers entkräften.
Das müssen nicht mal große Meilensteine sein, wie „Ich habe aber meine Ausbildung/mein/Studium/Abitur/… hinbekommen“.
Diese kannst natürlich trotzdem aufschreiben, aber guck auch mal in deinen Alltag.
Die meiste Zeit über machst du sehr viel richtig und bekommst ebenfalls sehr viel hin.
Und können alle anderen es besser als du?
Viele ja, viele aber auch nicht.
Und überhaupt: Ist das so wichtig, ob du etwas besser oder weniger gut kannst als jemand anders?
Selbstkritik loslassen und selbstmitfühlend sein – leichter gesagt als getan
Ein abschließender Gedanke zum Thema Selbstkritik:
Du wirst von klein auf internalisierte Glaubenssätze nicht von heute auf morgen loslassen können. Nur weil du mitfühlender mit dir selbst sein möchtest, wird dein innerer Kritiker nicht ab jetzt den Mund halten.
Selbstmitgefühl ist Übungssache und braucht daher Zeit.
Achtsamkeit ist hier dein wichtigstes Werkzeug:
Wenn du deine Gedanken achtsam wahrnimmst, erkennst du schneller, wann sich dein innerer Kritiker meldet und hast anschließend die Möglichkeit, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Und wenn du das nicht direkt schaffst:
Gib dir Zeit und sei geduldig. Es geht nicht um Perfektion beim Selbstmitgefühl 😉
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